[2] Fluchthilfe - Gedenkort Lisa Fittko

Überblick 2/11


Flucht quer durch Europa

Der Faschismus triumphiert in Europa: 1922 wird Mussolini in Italien Staatschef, 1933 erlangt der Nationalsozialismus in Deutschland die Macht, 1939 siegt der Putschist Franco im Spanischen Bürgerkrieg. Das Hitler-Regime treibt mit seiner antisemitischen Gewaltherrschaft Andersdenkende in Untergrund und Exil. Auch die jüdische Kommunistin Lisa Fittko taucht 1933 unter und arbeitet vor ihrer Flucht aus Berlin gegen Hitler (1+2➘):

© Aus dem Dokumentar-Hörbuch 'Lisa Fittko: Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte...' · ABACUS Medien 2006


Linke Politiker_innen, Kunstschaffende, Jüdinnen und Juden, kommunistische und sozialistische Aktivist_innen, Wissenschaftler_innen, gewerkschaftlich oder antifaschistisch Engagierte fliehen vor Verfolgung, Folter, Konzentrationslager und Tod. (3➘)
Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg. Es zwingt Hunderttausende aus den besetzten Ländern zur Flucht quer durch Europa, oft nach Frankreich. Nach der Niederlage Frankreichs 1940 geht die Flucht weiter in den noch unbesetzten Süden, viele schlagen sich in die Hafenstadt Marseille durch. Der einzige Ausweg ist nun übers Meer oder über die Pyrenäen, trotz Franco durch Spanien und weiter ins portugiesische Lissabon – um von dort per Schiff nach Mexiko, Kuba oder die USA zu gelangen. (4➘)

Fluchthilfe über die Pyrenäen

In Marseille erringen viele NS-Verfolgte rettende Visa und Schiffspassagen ins Exil. Doch die Hafenstadt wird zur Falle, als auch dort keine Schiffe mehr ablegen. Als einziger Ausweg bleibt die Flucht über die Pyrenäen, dann quer durch Spanien nach Lissabon. (5➘)
Die Sozialist_innen Claire und Henry Ehrmann werden an der Grenze im französischen Cerbere wegen fehlender Ausreisevisa aus dem Zug geholt. Jung und erfahren im Untergrund, gelingt ihnen im dritten Anlauf die Flucht über die Berge von Banyuls nach Portbou. (6➘)

© United States Holocaust Memorial Museum

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Close Der Bürgermeister beschrieb uns den Weg. Um nicht gesehen zu werden, stiegen wir nachts auf Pfaden hinauf in die Berge. Von der Straße hörten wir Stimmen, aber es waren nur Betrunkene. Es war weder schwierig noch einfach, eher anstrengend. Von oben, vom Kamm aus sahen wir die Lichter der spanischen Grenzstation. Stunden später, nachts um ein Uhr gingen wir dorthin hinunter.

Der 16 Kilometer lange Schmugglerweg vom französischen Banyuls über die Pyrenäen ins spanische Portbou ist eine der wichtigsten klandestinen Routen. Um die versteckten Pfade zu finden und die Grenzpatrouillen zu umgehen, ist die Unterstützung von Fluchthelfer_innen wie Lisa und Hans Fittko entscheidend.
Viele Netzwerke betreiben (organisierte) Fluchthilfe und retten unter hohem persönlichen Risiko zehntausenden Menschen das Leben. In ihnen arbeiten Bergbauern, republikanische (Exil)Spanier_innen, Mitglieder der Resistance und der Alliierten. Die zunehmende Überwachung der Pyrenäengrenze zwingt sie zu immer gefährlicheren Fluchtrouten in den Zentralpyrenäen, über hohe Pässe und durch Schneefelder.

Lisa und Hans Fittko

Lisa Fittko wird 1909 als Lisa Ekstein geboren und wächst in Wien und Berlin auf. Obwohl sie ab 1933 als Jüdin und Kommunistin stark gefährdet ist, arbeitet sie noch monatelang im Untergrund gegen Hitler. In Prag lernt sie Hans Fittko kennen, der als Kommunist aus Berlin fliehen musste. Gemeinsam entkommen sie in den noch unbesetzten Süden Frankreichs. Trotz eigener Verfolgung bleiben Lisa und Hans Fittko 7 Monate lang in Banyuls-sur-Mer und arbeiten ab September 1940 als Fluchthelfer_innen. (7➘) Der erste, den Lisa Fittko zur spanischen Grenze bringt, ist Walter Benjamin, mit der Hilfe des sozialistischen Bürgermeisters von Banyuls, Vincent Azéma.

© Aus dem Dokumentar-Hörbuch 'Lisa Fittko: Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte...' · ABACUS Medien 2006


Im Morgengrauen mischen sie sich möglichst unauffällig unter die Arbeiter_innen, die in die Weinberge gehen: ohne Gepäck, statt Wanderstiefeln die ortsüblichen Espandrillos an den Füßen.

© Aus dem Dokumentar-Hörbuch 'Lisa Fittko: Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte...' · ABACUS Medien 2006


In Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Emergency Rescue Committee (ERC) schleusen Lisa und Hans Fittko mehrmals pro Woche Jüdinnen und Juden, politische Aktivist_innen und abgeschossene Piloten der Alliierten über die Pyrenäen. Ab April 1941 dürfen sich nur noch Franzosen in der Grenzregion der Pyrenäen aufhalten: Die Rettungsaktionen der Fittkos werden unmöglich. Im November 1941 gehen sie selbst ins Exil: erst nach Kuba, dann in die USA. 2001 wird in Banyuls-sur-mer am Boulevard des Evades de France ein Denkmal für die Fluchthelfer_innen Lisa und Hans Fittko errichtet. (8➘)

Visa, Papiere, Stempel: Die Grenzsituation

Wer die Grenze nach Spanien überwinden will, muss einen wahren Papierkrieg bewältigen. Nötig sind ein gültiger Pass, ein Transitvisum durch Spanien, ein Visum für das Exilland, ein französischer Ausreisestempel, Passierscheine ...
Viele Emigrant_innen sind staatenlos, weil sie als Regimegegner_innen von den Nazis ausgebürgert werden oder weil ihnen als Jude/Jüdin die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wird. Walter Benjamin wird am 23. Februar 1939 ausgebürgert, weil er in der kommunistischen Exilzeitung Das Wort veröffentlicht hat. Bei vielen ist nach Jahren der Flucht der Pass längst abgelaufen. Und ist ein Visum ergattert, ist das andere oft schon wieder abgelaufen.
Die 16jährige Margit Meissner ist in Österreich geboren und in Prag aufgewachsen. Als Jüdin zunächst in Paris im Exil, trifft sie ihre Mutter in Südfrankreich wieder. (9➘)

© United States Holocaust Memorial Museum
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Close Ich schaffte es Visa für Belgisch-Kongo und Transitvisa für Spanien und Portugal zu bekommen – nicht aber die französische Ausreisegenehmigung. Obwohl ich Österreicherin war gab uns das tschechische Konsulat tschechische Ausweise. Aber an der Grenze zu Spanien durften wir wegen fehlendem Ausreisestempel nicht ausreisen: einen Tag vorher wäre es für uns als Tschechinnen noch möglich gewesen. So saßen wir an der Grenze, am letzten Tag unseres Visums.

Die Grenzbestimmungen ändern sich oft über Nacht. Abschiebungen über die Grenze zurück nach Frankreich sind die Folge - auch wenn so manch französischer oder spanischer Grenzer anfangs wohlwollend wegsieht. Für viele Nazigegner_innen sind gefälschte Papiere die einzige Chance. Der rumänische Arzt Maurice Verzeano, der aktiv Fluchthilfe betreibt, kümmert sich auch darum. (10➘)

© United States Holocaust Memorial Museum
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Close In einer Gruppe italienischer Antifaschisten in Marseille gab es einen Photograveur. Er war ein Meister. Ich bekam die meisten gefälschten Papiere von ihm. Ich ging durch eine dunkle Gasse zu seinem Labor in einem kleinen Haus und gab ihm die Fotos und Namen. Er machte dann großartige Pässe, er war ein Künstler.

Fluchthilfe damals und heute

Damals edle Fluchthelfer – heute kriminelle Schlepper und Menschenschmuggler, skrupellos, ausbeuterisch, menschenverachtend? Das Bild von Fluchthilfe hängt ab von den historisch-politischen Umständen. (11➘) Ist Fluchthilfe einmal notwendige Hilfe in der Not, gilt sie heute oft als illegal. Bernd Mesovic von Pro Asyl beklagt diese Verschiebung:
Heute wird Fluchthilfe kriminalisiert und als Teil der organisierten Kriminalität dargestellt, obwohl empirische Funde vorliegen, dass ein großer Teil der Menschen auf der Flucht immer noch eher mit der Unterstützung familiärer Netzwerke flüchtet. Im medial angeheizten Schlepperdiskurs werden Flüchtlinge dann als Opfer skrupelloser Hochstapler dargestellt. (12➘)
Die Motive für Fluchthilfe sind und waren vielfältig und reichen von Solidarität, Altruismus über Gelegenheitshilfe hin zur rein kommerziellen Unternehmung. Die Grenzen sind fließend. Die meisten Flüchtenden jedoch überwinden Staatsgrenzen auf eigene Faust.
Doch die Aufrüstung der EU-Außengrenzen, die immer lückenlosere Überwachung zwingt zu immer gefährlicheren Wegen und dazu, teure Dienste von Schleppern in Anspruch zu nehmen. (13➘) Tatsächlich gibt es ausbeuterische oder fahrlässig geplante Fluchthilfe.
Insgesamt aber macht Fluchthilfe die Flucht sicherer. Sozialwissenschaftliche Studien belegen, dass Migrant_innen unterwegs gelegentlich selbst als Schleuser agieren, weil sie das nötige Wissen haben und für ihre weitere Flucht Geld brauchen. (14➘) Auch Lisa und Hans Fittko waren selbst verfolgt, nutzten ihre Erfahrung aus Jahren der Flucht und konnten so Verfolgte erfolgreich über die Grenze geleiten.

Quellen und externe Links

Externe Links öffnen sich in einem neuen Browserfenster oder Tab.
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  1. Lisa Fittkos Erinnerungen sind hier anzuhören: Lisa Fittko: "Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte..." Ein Dokumentar-Hörbuch – 3 CD mit Booklet, ABACUS Medien 2006
  2. Lisa Fittko beschreibt ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus und ihre ersten Jahre im Exil in ihrem Buch: Solidarität unerwünscht. Erinnerungen 1933-1940. Carl Hanser Verlag 1992
  3. Das Exil-Archiv ist ein virtuelles "Zentrum der verfolgten Künste", das nicht nur den Lebensweg von prominenten Exilant_innen erforscht sondern auch Informationen zu vergessenen, weniger bekannten Kunstschaffenden und Intellektuellen zusammenträgt:
  4. Patrik von zur Mühlen: Fluchtweg Spanien – Portgual: die deutsche Emigration und der Exodus aus Europa 1933 – 1945. Dietz 1992
  5. Josep Calvet: Las montañas de la libertad. El paso de refugiados por los pirineos durante la segunda guerra mundial 1939-1944. Alianza Editorial 2010; auf katalanisch: Josep Calvet: Les Muntanyes de la Llibertat. El pas d'evadits pels Pirineus durant la Segona Guerra Mundial. L'Avenç 2008.
  6. Das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) bietet auch online umfassende Informationen zum Holocaust, zu Verfolgung, Flucht und Widerstand von Jüdinnen und Juden aber auch anderen NS-Verfolgten – in Text, Bildern und einem großen Video- und Audioarchiv: . Das komplette Interview mit Claire und Henry Ehrmann gibt es hier:
  7. Lisa Fittko beschreibt ihre Zeit als Fluchthelferin über die Pyrenäen in ihrem Buch: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Carl Hanser Verlag 1985; auf spanisch: Lisa Fittko: Mi travesía de los Pirineos. Evocaciones 1940/41. Muchnik Editores 1988; auf englisch: Lisa Fittko: Escape Through the Pyrenees. Northwestern University Press 2000; auf französisch: Lisa Fittko: Le Chemin des Pyrénées: souvenirs 1940-41, Ed Maren Sell 1987
  8. Catherine Stodolsky, Historikerin und Nichte von Lisa Fittko, hat über das Leben ihrer Tante geforscht:
  9. Das komplette Interview mit Margit Meissner des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) ist hier anzuhören:
  10. Das Interview mit Marcel “Maurice” Verzeano des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) findet sich hier:
  11. Das Feature Guter Fluchthelfer - böser Schleuser beleuchtet wie unterschiedlich Fluchthilfe und Schleusung dargestellt und rezipiert werden:
  12. Fluchthilfe ist das Thema der Zeitschrift Hinterland im November 2014 - unter dem Titel: Schlepper, Schleuser, Superheld*in...
  13. Die Kampagne “Salvemos la Hospitalidad” setzt sich in Spanien gegen Kriminalisierung von Fluchthilfe und Flüchtlingsunterstützung ein:
  14. Die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration arbeitet seit den 1990er Jahren zur Situation von Flüchtlingen und Migrant_innen an der Peripherie der Europäischen Union (EU). Hier eine Analyse zu Fluchthilfe:
  15. Das transnationale Netzwerk "Watch the Med" hilft Menschen, die im Mittelmeer in akuter Seenot sind. Es dokumentiert unterlassene Hilfeleistungen und Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze: